FÖR ETT ÅR SEDAN

24. Januar 2007.

München liegt unter einer dichten Schneedecke, die Flocken tanzen vor den Scheinwerfern der Autos, die sich durch die rutschigen Straßen schieben.


An der Arnulfstraße steht eine Frau, Mütze auf dem Kopf, Mantel, Winterstiefel, zwei große Koffer, Rucksack, Nähmaschine. Sie sieht um sich, wartet offensichtlich. Es wird gerade dunkel.


24 Stunden zurück.

Ich ziehe Haare aus dem Abfluss in der Dusche und wische den Boden im Bad und im Zimmer, in dem auf dem Bett ein großer Haufen Dinge liegt. Ansonsten ist alles leer, der Schrank, das Regal. Auf dem Schreibtisch nur noch ein Notebook und einige Zettel. Der schmutzige Putzlappen kommt in den Abfalleimer.

Nur kurze Zeit später sitze ich vor dem Seminarraum der Uni und warte. Mütze, Mantel, Winterstiefel, es ist noch einmal richtig kalt geworden, schneit seit Tagen, das Meer friert zu, und auf dem Fußweg vom Wohnheim zur Uni peitscht mir der Wind ins Gesicht. Jeder Meter macht Mühe, die zehn Minuten Gehzeit ziehen sich in die Länge. Der Wind ist lauter als die Musik aus den Kopfhörern. Es ist die Musik, die auf der Festplatte unter "Herbst 2006" gespeichert ist, Lieder, die an Nächte am Wasser erinnern, an Gespräche in der U-Bahn, an Abende in der Wohnheimküche, an feuchtes Gras, Kuhdung, nasse Bussitze, feuchte Wollsocken. Aber Herbst 2006 ist nicht laut genug, mit dem Winter 2006 mithalten zu können, sie liefern sich einen harten Kampf, Herbst wird nicht siegen, auf den dicken Schnee fallen und dann davongeweht werden.

Ich sitze vor dem Seminarraum in der Uni und warte. Vor wenigen Wochen habe ich meinen D-Aufsatz abgegeben, als schwedischer Student hätte ich damit mein Magisterzeugnis in der Tasche. Tove, Erik, Wilmar und die anderen, mit denen ich den Magisterkurs studiert habe, schleppen die Winterstiefel die Treppe hinauf, wir setzen uns um den großen Tisch. Mein Aufsatz wird diskutiert, ich versuche jede Behauptung, jede Feststellung, jeden meiner Sätze zu verteidigen, die Zunge wird länger und länger und steckt schließlich in Form eines großen Knotens in der Mundhöhle fest.

Hejdå Steffi kom snart tillbaka.


Kurze Zeit später.

Janina, Love und Joel schneiden mit dem Kartoffelschäler eine Ingwerwurzel in Streifen, es riecht durchdringend nach Essig, auf dem Tisch brennen Teelichter in den kleinen Gläsern, deren Oberfläche rußig schwarz ist.
Joel schüttet Reis in Wasser, Love spricht über Erinnerungen, über den letzten Winter und über Abschiede.

Das Zimmer, eine Ecke um den Flur und dann links, es ist leer, kalt. Daniel hat gestern schon den Teppich, die Lampe, Bettzeug, Papier abgeholt. Meine Koffer sind voll, kein Kubikzentimeter Luft mehr, die Zahnbürste wird am nächsten Morgen im Mülleimer landen. Handtuch und Bettwäsche kann sich Janina abholen, ich werde sie auf die Heizung im Flur legen.

Wir essen Sushi im Wohnzimmer. Ein letztes schwedisches Bier, Schokopudding danach, den von Dr. Oetker, den aus dem Weihnachtspaket.


Mitternacht.

Wir rennen schreiend zum Strand. Der Schnee liegt wadentief, läuft von oben in die Schuhe, die Jeans wird nass, die Nase eiskalt. Wir schmeißen uns am Wasser auf dem Boden und graben uns ein, bewerfen uns mit dem Schnee, bombardieren die dünne Eisschicht auf der Meeresoberfläche, die jetzt noch mehr als sonst glänzt. Auf ihr spiegeln sich die Lichter von Lidingö und Djursholm, der beiden Inseln, die man von Lappkärrsberget aus sieht, wo wir gerade stehen, am Nordzipfel.

Die Lichter werde ich so schnell nicht wieder sehen. Tränen und Rotz frieren an den Backen fest. Ein großer Umweg über den Campus, ein letzter Blick in die Fenster, hinter denen ich monatelang saß, letzte Gedanken, die an den kalten Wänden der Gebäude hängenbleiben und vielleicht am nächsten Tag von irgend jemandem mitgenommen werden.

Love bitte ich, mir die letzte Möglicheit, nicht zu fahren, zu nehmen. Er packt den gesamten Inhalt meines Vorratsschrankes ein.

Hejdå Steffi, kom snart tillbaka. Vi kommer att sakna dig.


24. Januar 2007, kurz nach fünf Uhr morgens.

Ich lege Handtuch und Bettwäsche auf die Heizung im Flur.

Mütze auf dem Kopf, Mantel, Winterstiefel, zwei große Koffer, Rucksack, Nähmaschine. Einzeln durchs Treppenhaus, die letzten Kräfte scheinen jetzt schon aufgebraucht zu sein.
Mit dem Bus zur U-Bahn, mit der U-Bahn zum Bahnhof, mit dem Zug zum Flughafen. Stockholm ist weiß, friedlich, ruhig, im Morgenlicht, Morgendunkel, der Geruch der Bahn, ein letztes Mal.

Bei der Gepäckabgabe platzt der Koffer, die Cremedose verschwindet unter dem Rollband, Übergewicht bezahlen, ein Schleier vor den Augen, schmerzende Hände, Schultern, Beine. Den Geschmack vom Sushi noch auf der Zunge, Janinas Umarmung noch auf dem Rücken, das Gefühl, wie der kalte Schnee durch die Schuhe zu den Füßen dringt. Der ganze Körper will zurück, Zug, U-Bahn, Bus, die Treppen hinauf, in die Küche setzen, Kaffee aufbrühen. Und dann durch den Gegenwind zur Uni, quer über die Wiese. Oder ans Wasser, in den Schnee werfen und laut schreien.

Der ganze Körper will zurück, der Verstand ist wach und setzt den Körper ins Flugzeug. Über den Wolken strahlender Sonnenschein, Gerüche, Geräusche, Gedanken, Empfindungen, alles kommt wie durch eine dicke Schicht Watte an, das Gefühl im Bauch ist ruhiggestellt, es darf nichts gefühlt werden, es darf nicht daran gedacht werden, was hier gerade passiert, es darf einfach nicht passieren, wir wollen es nicht realisieren, der Körper, der Verstand und der Bauch. Wir wollen nicht zusammenarbeiten, nicht da sein, wo wir sind, nicht an das Ziel, das wir bald erreichen, nicht das hinter uns lassen, was längst weit weg ist.
Eine schwedische Zeitung zum festhalten.


Ca. 10 Uhr.

In Kopenhagen ist der Anschlussflug nach München gecancellt, die Wetterlage macht eine Landeerlaubnis dort unmöglich. Mit einem umgebuchten Ticket und einem Verzehrgutschein über zehn Kronen verlassen Rucksack, Nähmaschine und ich das Servicecenter.

Susi wartet im Café an der großen Rolltreppe, der Flug geht in etwa fünf Stunden. So lange sprechen wir über alles, nur nicht das, was nicht ausgesprochen werden darf. Das Ziel, das auf meinem Ticket steht. Wir sprechen über die schönen letzten Tage, aber nicht davon, dass es Abschiedstage waren, über Menschen und Orte, die uns viel bedeuten, aber nicht davon, dass sie bald noch weiter weg sein werden.

Die Wattewolke im Kopf bleibt, Gott sei Dank.


Spätnachmittag.

Am Münchner Flughafen ist der S-Bahnsteig voller Menschen. Eine Frau steht da, Mütze auf dem Kopf, Mantel, Winterstiefel, Rucksack, Nähmaschine, Koffer. Sie sieht sich ein wenig verloren um. Zwei schwedische Professoren rätseln was "Aufgrund der Wetterlage treffen alle Züge mit erheblicher Verspätung ein" heißen könnte, sehen sich fragend an, ein Deutscher schlägt zornig auf den Fahrkartenautomaten ein und schimpft deutsch, wie ein Rohrspatz. Die beiden Schweden sind für eine Tagung nach München gekommen.

Wir unterhalten uns über das schwedische Bildungssystem, ich zeige ihnen, wie sie am besten vom Bahnhof in ihr Hotel kommen, wo man abends essen gehen kann. Woher weiß ich das alles? Was ist das für eine Stadt, auf die die S-Bahn zufährt, in der ich mit so viel Gepäck sitze? Was ist das vor dem Fenster, was ist das für ein Geruch, welche Sprache sprechen die Menschen, wo bin ich, und vor allem: was tue ich hier?
Warum bin ich nicht da, wo ich hingehöre?


Ich stehe still, rechts und links sausen Farben vorbei, Geräusche, kalt und warm, die Füße kleben am Boden, es dröhnt in den Ohren, Augen zu, nicht hinhören, nichts sehen, nichts riechen wollen, weg mit der Wahrnehmung, weg, weg. Schlafen wäre gut.


Es wird gerade dunkel.

An der Arnulfstraße steht eine Frau, Mütze auf dem Kopf, Mantel, Winterstiefel, zwei große Koffer, Rucksack, Nähmaschine. Sie sieht um sich, wartet offensichtlich.

Eine andere in Mantel und Stiefeln kommt auf sie zu gelaufen, fällt ihr um den Hals, hält ein Taxi an, hilft ihr das Gepäck in den Kofferraum zu heben. Sie fahren weg, ohne einen Euro in der Tasche. Durch die fallenden Schneeflocken sieht man das Auto bald nicht mehr.

Ein Jahr später, heute.

Es ist kalt im Zimmer, die letzten Tagen waren sonnig, jetzt ist es noch einmal richtig kalt geworden, heute morgen lag sogar Schnee.

Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, bald wird die Studentenzeit vorbei sein.

Neben mir liegt ein Stapel CDs. Auf dem Cover steht "Stockholm" und in der Hülle stecken 15 Minuten akustische Erinnerung an die phantastischen Monate in Stockholm, im Herbst 2006.

"Herbst 2006" kam nie wieder aus dem Kopfhörer.

Kommentarer
Postat av: CJ

Gab gar kein schnee in sthlm während weinachten.. aber es ist trotzdem die schönste stadt der welt, nicht wahr:)?

2008-01-24 @ 01:43:22
URL: http://diddan.blogg.se
Postat av: Sue.

Wow.
Wahnsinnig gut geschrieben.

2008-01-24 @ 12:30:32
Postat av: steffi

cj: ich dachte lidingö ist die schönste stadt der welt.
oder vielleicht sind beide die schönste stadt der welt?

2008-01-24 @ 12:43:59
Postat av: ma

bin total fertig und ergriffen -- ja

2008-01-24 @ 13:11:44
Postat av: jag

du sagst es, stefanie.

2008-01-24 @ 20:41:42
Postat av: sweedchen

fernweh | heimweh
paradies. apselut!

2008-01-24 @ 23:42:43
URL: http://www.sweedchen.meedchen.de/

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